© 1999
François Bry
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3.10 Die natürlichen Zahlen und das Induktionsaxiom
In diesem Abschnitt betrachten wir die Menge
der natürlichen Zahlen mit der Zahl 0 und der
Nachfolgerfunktion 1+ :→
,
n→1+(n) := 1+n und folgenden Eigenschaften:
-
Kein Wert der Nachfolgerfunktion 1+ ist 0.
-
Die Nachfolgerfunktion 1+ ist injektiv.
-
Für jede Teilmenge X der Menge der natürlichen Zahlen gilt:
Enthält X die Null und mit jedem
Element auch dessen Nachfolger, dann ist X die gesamte Menge der natürlichen
Zahlen.
Ob die intuitiven natürlichen Zahlen diese drei
Eigenschaften tatsächlich besitzen, insbesondere die dritte,
kann selbstverständlich hinterfragt werden. Diese
philosophische Frage soll uns aber hier nicht weiter
beschäftigen. Aus mathematischer Sicht werden sie einfach
postuliert und sogar zur Grundlage einer Formalisierung der
natürlichen Zahlen in der Prädikatenlogik gemacht.
Für eine solche Formalisierung benutzen wir folgende
Hilfsmittel.
Definition 3.10.1.
Sei
o,s
die Sprache der Prädikatenlogik erster bzw. zweiter Stufe mit
Gleichheit, die aus einer Konstanten
o und
einem einstelligen Funktionssymbol
s besteht.
Es bezeichne (,0,1+)
die normale o,s-Interpretation
mit
und
und
U(x)=0
für jede Variable x.
In der Sprache o,s
soll also die Konstante o
für die natürliche Zahl 0 stehen
und das Funktionssymbol s
für die Nachfolgerfunktion 1+. Damit können die obigen drei Eigenschaften durch drei
geschlossene o,s-Formeln
formalisiert werden.
Da wir postulieren, dass die natürlichen Zahlen die
genannten drei Eigenschaften besitzen, ist die
o,s-Interpretation
(,0,1+)
ein Modell der Formelmenge {P1, P2, P3}. Wir
werden sehen, dass alle anderen normalen Modelle des Peano'schen
Axiomensystems zu diesem Modell isomorph sind, das heißt, im
wesentlichen identisch.
Definition 3.10.3 (Isomorphe Interpretationen).
Sei
eine Sprache der Prädikatenlogik erster oder zweiter Stufe und
seien
M1=(D1,Ab1,U1) und
M2=(D2,Ab2,U2) zwei
-Interpretationen.
Eine Funktion μ:D1→D2
heißt ein Isomorphismus
von M1 auf M2, wenn:
-
μ:D1→D2 ist eine Bijektion.
-
Für jede Konstante c gilt
μ(cM1)=cM2.
-
Für jedes n-stellige (n≥1) Funktionssymbol f und alle
d1,...,dn∈D1 gilt
μ(fM1(d1,...,dn))=
fM2(μ(d1),...,μ(dn)).
-
Für jedes nullstellige Relationssymbol p gilt
pM1=pM2.
-
Für jedes n-stellige (n≥1) Relationssymbol p und
alle d1,...,dn∈D1 gilt
(d1,...,dn)∈pM1 gdw.
(μ(d1),...,μ(dn))∈pM2.
Gibt es einen Isomorphismus von
M1 auf
M2,
dann heißen
M1 und
M2 isomorph.
Genaugenommen müsste die Definition auch Bedingungen
für die Umgebungen enthalten. Wir betrachten aber nur
geschlossene Formeln, so dass die Umgebungen keine Rolle
spielen.
Satz 3.10.4 (Isomorphiesatz).
Sind
M1 und
M2
isomorphe
-Interpretationen,
so gilt für jede geschlossene
-Formel
F:
M1F gdw.
M2F.
Beweis: strukturelle Induktion.
Bevor wir die Modelle des Peano'schen Axiomensystems
untersuchen, betrachten wir die Formel P3 genauer. Sie ist eine Formel der
Prädikatenlogik zweiter Stufe. Diese Formel wird als
Induktionsaxiom bezeichnet, weil sie die Grundlage für
Induktionsbeweise liefert.
Satz 3.10.5 (Beweisprinzip der vollständigen Induktion).
Sei
M=(D,Ab,U) eine
o,s-Interpretation,
die das Induktionsaxiom
P3 erfüllt. Um zu zeigen, dass
jedes Element von
D eine
Eigenschaft ε besitzt, genügt es, zu zeigen:
-
Induktionsbasis: Ab(o) besitzt die Eigenschaft ε.
-
Induktionsschritt: Für jedes d∈D, das die
Eigenschaft ε besitzt, besitzt auch Ab(s)(d) die
Eigenschaft ε.
Beweis:
Sei
Dε die Relation (das heißt, Teilmenge)
derjenigen Elemente von
D, die die
Eigenschaft ε besitzen.
M erfüllt
P3 insbesondere auch für den Fall, dass
X
mit
Dε interpretiert wird, mit anderen Worten:
M[Dε/X]
[X(o)∧∀y[X(y)⇒X(s(y))]) ⇒ ∀z X(z)] (*)
Wegen der Induktionsbasis gilt Ab(o)∈Dε,
also M[Dε/X]X(o).
Wegen des Induktionsschritts gilt für jedes d∈D:
wenn d∈Dε so Ab(s)(d)∈Dε,
das heißt, für jedes d∈D gilt M[Dε/X][d/y]
[X(y)⇒X(s(y))],
also M[Dε/X]∀y [X(y)⇒X(s(y))].
Mit diesen beiden Ergebnissen gilt wegen (*) auch
M[Dε/X]∀z X(z),
für jedes d∈D gilt damit d∈Dε, also
besitzt jedes d∈D die Eigenschaft ε.
Dieses Beweisprinzip ist für jede
o,s-Interpretation
anwendbar, die P3 erfüllt, also insbesondere auch für
(,0,1+).
Spezialisiert für diese Interpretation lautet die
Induktionsbasis, dass 0 die
Eigenschaft ε hat und der Induktionsschritt, dass für jedes
n∈ mit
Eigenschaft ε auch 1+n die Eigenschaft ε hat.
Das ist genau das übliche
Beweisprinzip der vollständigen Induktion für die
natürlichen Zahlen, das wir schon mehrfach benutzt haben.
Man kann aus der Tatsache, dass (,0,1+)
ein normales Modell der Formelmenge {P1, P2, P3} ist,
weitere bekannte Eigenschaften der natürlichen Zahlen
ableiten, die wir bisher schon benutzt haben. Dazu gehört zum
Beispiel ein Prinzip der rekursiven Definition von Funktionen auf
oder auch,
dass es zu jedem n∈
mit n≠0 ein k∈
gibt mit n=1+k.
Das soll aber hier nicht im einzelnen durchgeführt werden.
Wir werden derartige Eigenschaften der natürlichen Zahlen
weiterhin, wie bisher, einfach voraussetzen und benutzen, ohne sie
formal daraus abzuleiten, dass (,0,1+)
das Peano'sche Axiomensystem erfüllt.
Satz 3.10.6 (Satz von Dedekind)
Jedes normale Modell der Formelmenge {
P1,
P2,
P3} ist mit
(
,0,1+) isomorph.
Beweis:
Sei
M=(D,Ab,U) ein normales Modell von {
P1,
P2,
P3}. Wir
definieren eine Funktion μ:
→
D
rekursiv für alle natürlichen Zahlen:
μ(0) |
:= |
Ab(o) |
μ(1+(n)) |
:= |
Ab(s)(μ(n)) für alle n∈ |
Diese Funktion erfüllt nach Konstruktion die Forderungen 2.
und 3. von Definition 3.10.3. Da
das einzige
Relationssymbol in o,s
ist, gilt trivialerweise auch Forderung 4. Forderung 5. reduziert
sich wegen der Normalität beider Modelle darauf, dass für
alle m,n∈
gilt m=n gdw. μ(m)=μ(n). Das folgt unmittelbar,
wenn die Funktion auch Forderung 1. erfüllt, also eine
Bijektion ist, was noch zu zeigen bleibt.
Für die Injektivität von μ zeigen wir durch vollständige Induktion,
dass jede natürliche Zahl n folgende Eigenschaft besitzt:
E(n):
Für alle m∈
gilt, wenn m≠n, dann μ(m)≠μ(n).
Induktionsbasis n=0: Sei m≠0.
Dann ist m=1+k für ein k∈.
Also ist μ(m)=μ(1+(k))=Ab(s)(μ(k)). Da M das Axiom P1 erfüllt, gilt
Ab(s)(μ(k))≠Ab(o). Wegen Ab(o)=μ(0) gilt also μ(m)≠μ(0).
Induktionsschritt n→1+n: Es gelte E(n). Sei m≠1+n. Falls m=0,
wird wie im Basisfall gezeigt, dass μ(m)≠μ(1+(n)). Andernfalls ist m=1+(k)
für ein k∈,
also 1+(k)≠1+(n) und damit k≠n. Nach Induktionsannahme gilt dann
μ(k)≠μ(n). Da M das Axiom P2 erfüllt, ist Ab(s) injektiv, so
dass auch Ab(s)(μ(k))≠Ab(s)(μ(n)) gilt.
Anwendung der Definition von μ auf beiden Seiten ergibt μ(1+(k))≠μ(1+(n)),
das heißt, μ(m)≠μ(1+(n)).
Für die Surjektivität von μ nutzen wir aus, dass M
das Induktionsaxiom P3 erfüllt. Wir zeigen durch vollständige
Induktion die Surjektivität von μ, dass also jedes Element von D
zum Bild von μ gehört.
Induktionsbasis Ab(o): Da μ(0)=Ab(o), gehört Ab(o) zum Bild von μ.
Induktionsschritt d→Ab(s)(d): Sei d im
Bild von μ, das heißt, es gibt ein
n∈ mit
μ(n)=d. Nach Definition ist μ(1+(n))=Ab(s)(μ(n)),
also μ(1+(n))=Ab(s)(d), das heißt, Ab(s)(d) gehört
zum Bild von μ.
Das Peano'sche Axiomensystem hat also die Eigenschaft, dass alle
seine normalen Modelle isomorph zu
(,0,1+) sind.
Unter Anwendung des Endlichkeitssatzes kann gezeigt
werden, dass keine Menge von geschlossenen
o,s-Formeln
der Prädikatenlogik erster Stufe diese
Eigenschaft hat. Das bedeutet, dass das Induktionsaxiom P3 nicht in der
Prädikatenlogik erster Stufe ausdrückbar ist.
Da der Endlichkeitssatz für die Prädikatenlogik erster
Stufe erst in Kapitel 4 bewiesen wird, wird auch
die Nichtausdrückbarkeit des Induktionsaxioms erst dort
behandelt.
Validierung