Rolf Backofen 5, August Böck 1, François Bry 4,
Andreas Buckenmaier 2, Peter Clote 4, Wilfried Gabriel 1,
Rudolf Grosschedl 3, Heinz-Gerd Hegering 4, Reinhold G. Hermann 1,
Hans-Peter Kriegel 4, Regine Kahmann 1, Fred Kröger 4,
Claudia Linnhoff-Popien 4, Hans-Werner Mewes 1, Elisabeth Weiß 1
und Martin Wirsing 4
1 Professor an der Fakultät für Biologie, Mitglied der Bioinformatik-Kommission2 Student an der Fakultät für Biologie, Vertreter der Studierenden in der Bioinformatik-Kommission
3 Leiter des Gen-Zentrums,
Professor an der Fakultät für Chemie und Pharmazie4 Professor am Institut für Informatik
5 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Informatik
"The biological sciences are poised to become to the 21st Century what physics has been to the 20th Century. Just as the discovery of DNA in the 1950's led to a profound revolution in biological understanding, today we are poised to make a similar leap, in which advanced computational tools will be used to understand biological systems in all their complexity while preserving and exploiting those systems in a sustainable fashion.""Computational biology is part of a larger revolution that will affect how all of science is conducted. This larger revolution is being driven by the generation and use of information in all forms and in enormous quantities and requires the development of intelligent systems for gathering, storing and accessing information. "
Dr. Mary Clutter (National Science Foundation),
[1] Mitteilung an die US-Senatskommission für Handel, Wissenschaft und Verkehr, 17.9.1996
Ziel dieses Positionspapiers ist es, den Ausbau der Bioinformatik an der Ludwig-Maximilians-Universität München zu fördern, die vorhandenen Initiativen in diesem Bereich zu bündeln und so den Fortbestand und das Gedeihen dieser Schlüsseldisziplin an der Ludwig-Maximilians-Universität München zu sichern.Dieses Positionspapier vertieft Themen und Handlungsvorschläge, die mit dem [3] Weißbuch über Perspektiven in der Ludwig-Maximilians-Universität zum Anbruch des Informationszeitalters vom 23.7.1998 eingeführt wurden. Es entstand aus Gesprächen zur Stärkung der Bioinformatik in Forschung und Lehre zwischen der Fakultät für Biologie, der Fakultät für Chemie und Pharmazie, dem Gen-Zentrum und dem Institut für Informatik. Vertreter aller dieser Einrichtungen haben dieses Positionspapier erhalten und an seinem Inhalt mitgewirkt.
Nachdrucke dieses Positionspapiers sind unter folgender Adresse erhältlich:
Institut für Informatik
Sekretariat von Prof. Dr. François Bry
Oettingenstraße 67
80538 München
Tel.: 089 - 2178 2210
Fax: 089 - 2178 2211
Aus der Sicht der Biologie sind die Ziele der Bioinformatik unter anderem:
Die Anwendungen der Bioinformatik umfassen praktisch alle Bereiche der modernen, molekularen Biologie, ebenso wie die der molekularen Medizin (Humangenomprojekt, Populationsgenetik, Neurobiologie).
Aus der Sicht der Informatik sind die Aufgaben der Bioinformatik:
Die Entwicklung der komplexen algorithmischen Verfahren erfordert die Anwendung von Methoden der Theoretischen Informatik. Nicht nur in den Biowissenschaften, sondern auch in Bereichen wie unter anderem der Physik, den Geo-Wissenschaften und sogar in Mathematik und Sozialwissenschaften nimmt in letzter Zeit die Bedeutung der computergestützten Simulation deutlich zu.
Die Methoden der Bioinformatik sind nicht auf einzelne Bereiche, wie etwa die "rote" oder "grüne" Biologie beschränkt. Im Vordergrund steht sowohl für die Analyse der kleinen Genome (Bakterien, Pilze) als auch der zelldifferenzierenden Eukaryonten (Modellgenome wie C. elegans, A. thaliana, D. melanogaster) die Identifizierung und Charakterisierung der genetischen Elemente durch die Sequenzanalyse. Die Anwendungen und Weiterentwicklung von Standardalgorithmen und die Bewertung der Ergebnisse spielt eine wesentliche Rolle in der Bioinformatik der Genomanalyse (z.B. BLAST, FASTA, Hidden-Markov-Modelle zum Sequenzvergleich, Genmodellierung, Sekundärstrukturvorhersagen, Erkennung von Mustern und Domänen usw.). Von fundamentaler Bedeutung sind die primären und sekundären biologischen Datenbanken mit zahlreichen ungelösten Problemen bei der Repräsentation biologischen Wissens und ihrer Integration: Derzeit gibt es mehr als einhundert verschiedene Datenbanken in der Molekularbiologie, denen kein einheiltiches Datenmodell zu Grunde liegt.
Die Anwendungen von Bioinformatikmethoden sind vielfältig, hervorzuheben sind:
Ein bisher noch wenig hervorgetretener Bereich ist die computergestützte Simulation biologischer Prozesse z.B. zur Untersuchung komplexer Netzwerke, besonders bei der Auswahl und dem Entwurf experimenteller Ansätze. Dabei kann auf Erfahrungen bei der Simulation chemischer Prozesse aufgebaut werden, die wegen ihrer geringeren Komplexität schon weiter fortgeschritten sind und sich leichter weiterentwickeln lassen. In gleicher Weise wie Biologie auf den molekularen Grundlagen der Chemie beruht, kann Bioinformatik in wichtigen Teilbereichen Strukturen der Chemieinformatik nutzen [5].
Zuletzt sei erwähnt, dass die Bioinformatik an die Kognitionswissenschaften angrenzt. Die Kognitionswissenschaften sind der interdisziplinären Untersuchung von Wissens- und Denkvorgängen sowie der sogenannten Bioinformation, d.h. den physiologischen Trägern dieser Vorgänge, gewidmet. Die Kognitionswissenschaften setzen u.a. medizinische Methoden der Hirnforschung und Informatikmethoden der Künstlichen Intelligenz ein. Auch im Bereich der Kognitionswissenschaften wird an der Ludwig-Maximilians-Universität München geforscht.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Bioinformatik als fester Bestandteil der biologischen Forschung etabliert ist. Die ungezählten Herausforderungen und Probleme der modernen Biologie lassen sich nur mit Hilfe der Informatik bewältigen, die Methoden, Algorithmen und Anwendungen entwickelt und bereitstellt. Der Bioinformatik selbst kommt dabei die Rolle des Vermittlers zwischen dem experimentierenden Biologen und dem mathematisch denkenden Informatiker zu.
Keines der großen von der DFG und dem BMBF geförderten Programme zur Genomforschung (z.B. Deutsches Humangenomprojekt DHGP, Genomanalyse im Biologischen Modell Pflanze, GABI) kann ohne Bioinformatik realisiert werden. Bei der Vergabe von Drittmitteln spielt die Bioinformatik oft die entscheidende Rolle.
Auch in der Lehre wird die Wichtigkeit des Bioinformatik erkannt. In mehreren Universitäten -- unter anderem an der Ludwig-Maximilians-Universität München -- wird die Einrichtung von Studiengängen im Fach Bioinformatik vorbereitet [4].
Es sei bemerkt, dass die Bioinformatik bei den Diskussionen um die Fusion der europäischen Chemiekonzerne Hoechst und Rhône-Poulenc ein wichtiger Punkt war. Auch führende Pharmakonzerne in den USA wie SmithKline Beecham oder Millenium Pharmaceutical betreiben in erheblichem Umfang Forschungs- und Entwicklungsarbeiten im Bereich der Bioinformatik.
Die in der Region München gegründeten jungen Biotechnologieunternehmen sind auf eine starke Bioinformatik angewiesen. Einige von ihnen sind in der Genomanalytik vertreten und nutzen Bioinformatikdienstleistungen intensiv (z.B. Medigenomix, GPC, Epidaurus, Switch Biotech). Die Bioinformatik unterstützt die Unternehmen beim Aufbau ihrer Informationstechnologien. Es haben sich bereits zwei Bioinformatikanbieter als Ausgründungen des Forschungszentrums für Umwelt und Gesundheit (GSF) etabliert: die Biomax Informatics GmbH und Genomatix. Diese Tatsache unterstreicht nicht nur die wirtschaftliche Bedeutung der Bioinformatik, sondern auch die Notwendigkeit zur Ausbildung qualifizierter Bioinformatiker.
An den Münchner Universitäten sind mit dem Gen-Zentrum, der Fakultät für Biologie und den Instituten in Weihenstephan international renommierte Einrichtungen vorhanden, die die Biowissenschaften hervorragend repräsentieren. Mit dem "Münchner Informationszentrum für Proteinsequenzen" des Forschungszentrums für Umwelt und Gesundheit (GSF) am Max-Planck-Institut für Biochemie besteht bereits seit mehreren Jahren eine international anerkannte Einrichtung, die Methoden der Bioinformatik zum Zweck der Genomanalyse einsetzt.
Es ist höchste Zeit, die vorhandenen Ressourcen zu verknüpfen und mit dem Ausbau der Bioinformatik einen weiteren, in das nächste Jahrtausend weisenden Forschungsschwerpunkt in Bayern anzusiedeln.
Im RIDOM-Projekt (Ribosomal Differentiation of Medical Micro-Organisms), einer Kooperation zwischen der Fakultät für Mathematik und Informatik und dem Institut für Hygiene und Mikrobiologie der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg, wurde ein WWW-Informationssystem zur Erkennung von Mikroorganismen aufgebaut, das im Juni 1999 bei Fachtagungen der wissenschaftlichen Öffentlichkeit dargestellt wurde.
Ludwig-Maximilians-Universität München. An der Ludwig-Maximilians-Universität München wurde der beschriebenen Entwicklung sehr früh Rechnung getragen, so dass sie im Vergleich zur anderen Universitäten, die erst vor kurzem Interesse an die Bioinformatik angekündigt haben, über einen beachtlichen Vorsprung verfügt.
Am Lehrstuhl von Prof. Clote werden vorwiegend kombinatorische Optimierungsverfahren, Strukturvorhersage von Proteinen, Mustererkennung im Genom, "Computing with Biomolecules" sowie der Entwurf neuer Algorithmen und Komplexitätsfragen der Bioinformatik untersucht.
Am Lehrstuhl von Prof. Kriegel werden Methoden zur Speicherung, Analyse und Suche von dreidimensionalen Darstellungen von Molekülen erforscht, die in der Biologie Anwendung finden. Diese Forschungsarbeiten führten in den vergangenen Jahren zu erfolgreichen Kooperationen mit verschiedenen Professoren und Fakultäten der Universität München und anderen Universitäten.
Seit vier Jahren werden am Institut für Informatik im Hauptstudium regelmässig Vorlesungen über Bioinformatik sowie Praktika, Seminare und Kolloquien angeboten. Ein fakultätsübergreifender Studiengang "Bioinformatik" zwischen den Fakultäten für Biologie, der Fakultät für Chemie und Pharmazie und der Fakultät für Mathematik und Informatik ist seit dem Frühjahr 1999 in Vorbereitung (siehe das [3] Weißbuch über Perspektiven in der Ludwig-Maximilians-Universität zum Anbruch des Informationszeitalters). Darüber hinaus wird mit dem Centrum für Informations- und Sprachverarbeitung (CIS) die Möglichkeit eines interdisziplinären Forschungsprojekts angegangen, das unter anderem der Ähnlichkeit von Verfahren der Bioinformatik und der Text- oder Sprachanalyse gewidmet sein soll.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Bioinformatik im Bereich der Forschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München bereits jetzt eine breite Basis hat. Wenn viele Wissenschaftler der Ludwig-Maximilians-Universität München unter anderem Methoden der Bioinformatik untersuchen oder anwenden, fehlen an dieser Universität noch Arbeitsgruppen, die sich in Forschung und Lehre primär der Bioinformatik widmen. Die Ludwig-Maximilians-Universität München bietet eine hervorragende Grundlage für die Bildung solcher Arbeitsgruppen und eines interdisziplinären Lehr- und Forschungsschwerpunkts Bioinformatik.
Damit befindet sich die Ludwig-Maximilians-Universität München in einer für Deutschland seltenen Situation: Lediglich die Universitäten Bielefeld, Bonn in Zusammenarbeit mit der GMD (GMD Forschungszentrum Informationstechnik GmbH, Sankt-Augustin bei Bonn), Saarbrücken und das DKFZ (Deutsches Krebsforschungszentrum) in Heidelberg haben bereits Forschungsgruppen im Bereich der Bioinformatik.
Der herausragenden Rolle der Bioinformatik für die Biowissenschaften wird derzeit im Bereich der Lehre noch nicht Rechnung getragen. Dies führt dazu, dass Hochschulabsolventen, die sowohl eine fundierte Informatik- als auch eine Biologieausbildung vorweisen können, derzeit auf dem Arbeitsmarkt "Mangelware" sind. Hier sehen das Institut für Informatik, die Fakultät für Biologie, das Gen-Zentrum und die Fakultät für Chemie und Pharmazie der Universität München eine gemeinsame Aufgabe in der Ausbildung. Ziel soll sein, junge Studenten in einem interdisziplinären Studiengang Bioinformatik für attraktive Positionen in Forschung und Industrie auszubilden.
Technische Universität München. An der Technischen Universität München wurde die Bedeutung der Bioinformatik erkannt. Kürzlich erfolgte der Senatsbeschluss, die Bioinformatik in Zusammenarbeit mit dem Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit (GSF) an der Technischen Universität München neu einzurichten. Geplant sind zunächst 3 der Bioinformatik gewidmete Lehrstühle. Zu einem späteren Zeitpunkt sollen 3 C3-Professuren mit Schwerpunkt Bioinformatik folgen.
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Auch das Institut für Mathematische Maschinen und Datenverarbeitung (Informatik) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat vor kurzem Interesse am Aufbau eines Studiengangs Bioinformatik gezeigt.
Obwohl der Forschungsbereich Bioinformatik noch jung ist, gibt es im deutschen Sprachraum schon genügend erfahrene Wissenschaftler, die in diesem Bereich tätig sind, für ein erfolgreiches Berufungsverfahren. Bei ausreichender Ausstattung kämen sogar weltweit führende Wissenschaftler für einen Lehrstuhl an der Ludwig-Maximilians-Universität München in Frage.
Eine solche Infrastruktur würde es einerseits dem Institut für Informatik ermöglichen, den zunehmenden Ausbildungsbedarf anderer Fachrichtungen der Universität München zu decken, andererseits die Basis für eine Nutzung von Ausbildungsressourcen ausserhalb der Universität darstellen, was viele als notwendige und unausweichliche Entwicklung ansehen [6].
Die Bioinformatik ist eine Schlüsseltechnologie für die Weiterentwicklung von Biologie, Chemie, Pharmazie und Medizin, die für den Forschungs- und Wirtschaftstandort Bayern entscheidend ist.
Die Ludwig-Maximilians-Universität München darf ihre vorhandenen Ressourcen in diesem Bereich nicht aufs Spiel setzen, wenn sie ihre führende Rolle in den erwähnten Disziplinen auch in Zukunft behalten will.
Darüber hinaus muss eine fundierte und fächerübergreifende Ausbildung im Studienfach Bioinformatik an der Ludwig-Maximilians-Universität München angeboten werden. Diese Universität bietet die besten Voraussetzungen für eine Ausbildung, die Universitätsabsolventen besonders gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt verspricht.